Hätten alle deutschen Parteien zur Zeit
des Umsturzes nur auf ihre Tasche geschaut, statt auf das Gesamtinteresse
des deutschen Volkes, so wie es heute die Landbündler tun,
so wäre es natürlich nicht zur Landesregierung gekommen,
sondern gleich zur bedingungslosen Unterwerfung. Herr Švehla,
der 6 Jahre lang èechische sozialistische Parteien narrte
und heute zum Unterschied deutsche Bürgerparteien narrt,
war - wie festgehalten werden muß - selbst kein Unterhändler
der Èechen, sondern das war ein viel
seriöserer Mann, Tusar gewesen, der aber auch
damals sagen mußte, daß die Mentalität des èechischen
Volkes zur Zeit für einen Ausgleich nicht geeignet war. Wo
damals Herr Windirsch
war, weiß ich nicht. Daß er aber für die Gnade,
in Švehlas Sonnenschein spielen zu dürfen, etwas
zu viel opfert, allzuviel riskiert, steht fest und daß seine
Partei, wenn sie den Fußtritt Švehlas bekommen
wird, mit dem schlechten Zeugnis Hiebe vom Vater Wähler erhalten
wird, ist sicher. Nicht abwaschen können die um Windirsch
herum aber auch das Kainszeichen der Kriegstreiberei. Das
deutschagrarische Bekenntnis von damals: "Mit den serbischen
Soldaten nehmen wir es immer noch lieber auf als mit den serbischen
Schweinen!" ist nicht vergessen. Die agrarische Hochschutzzollpolitik
im alten Österreich war eine der Hauptursachen der Volksbewegung
in Serbien gegen Österreich, aus der schließlich der
Anlaß zum Weltkrieg hervorging, über dessen Ausgang
gestern der agrarische Redner das ihm von Švehla erlaubte
Quantum Tränen vergossen hat.
Auch gestern - und damit will ich auf den anderen
Teil dieser Rede eingehen - feierte der deutschagrarische Redner
die hohen Landwirtschaftszölle, von denen er behauptete,
daß sie nicht nur die Kaufkraft, das Einkommen der Landwirte
erhöhten - warum also just jetzt die Klage der Landbündler
über untragbare Soziallasten? - sondern denen er auch den
Effekt andichtete, daß sie allen zugute gekommen wären.
Diese Glanzleistung agrarischer Märchenerzählerei verdient
schon einen kleinen Aufenthalt. Herr Windirsch hat gestern
auf die nun wieder rauchenden Schlote hingewiesen und hat dieses
Rauchen der Schlote als einen Erfolg der agrarischen Zollpolitik
hinstellen wollen. Er hat allerdings vergessen, auf die Tatsache
aufmerksam zu machen oder auch nur an sie zu denken, daß
das Wiederrauchen der Schlote eine internationale Erscheinung
ist und daß just die Èechoslovakei auch da bedeutend
den anderen Staaten nachhinkt. Aber auch noch ein anderes ist
darüber zu sagen. Herr Windirsch
hätte gut getan, nicht so in Bausch und Bogen mit einer Redewendung
über die agrarische Hochschutzzollpolitik hinwegzugehen,
sondern ein wenig mit Ziffern aufzuwarten. Nachdem er es nicht
getan hat, möchte ich es gerne nachholen. Er hätte z.
B. auf die Tatsache hinweisen können, daß infolge der
landwirtschaftlichen Hochschutzzölle bei uns der Brotpreis
gestiegen ist vom 31. Oktober 1923 bis 31. Oktober 1927 - in der
Zwischenzeit waren keine merklichen Schwankungen - also durch
die Zölle gestiegen ist von 2.8 Kè
pro kg auf 3.11 Kè.
Es sind das Ziffern aus einer ganzen Reihe von Städten Nordwestböhmens,
die mir zur Verfügung stehen. Der Preis des Mehles ist pro
Kilogramm von 3.17 Kè auf 4.23
Kè, der Preis des Zuckers - bei dem sich die von den deutschen
Regierungsparteien bekanntlich mitbeschlossene
Erhöhung der Zuckersteuer auswirkt von 4.96
Kè auf 6.04 Kè,
der Preis für geräucherten Speck von 15.74
Kè auf 18.40 Kè
gestiegen, so daß wir eine Steigerung in Prozenten haben:
Beim Speck um 16.80%.
beim Zucker von 21.77%, beim Mehl 33.43%,
beim Brot 49.51%, also nahezu um 50%. Die Meßziffer
ist in der Zeit bis zum Oktober 1927 infolge der Zölle um
18.36% gestiegen. Das ist die Auswirkung dieser Zölle
auf die breiten Massen der Konsumenten. Wie sie sich für
die großen landwirtschaftlichen Besitzer ausgewirkt haben,
das geht aus einigen anderen außerordentlich aufschlußreichen
Ziffern hervor. Die Ernte - und hier ist unter Ernte inbegriffen:
Weizen, Erbsen, Roggen, Kartoffeln, Gerste und Hafer - betrug
im Jahre 1925 123 Millionen q, die damals einen Wert von 10.3
Milliarden repräsentierten. Die Ernte vom Jahre 1926 - also
nach den Zöllen - hat wesentlich weniger, nämlich 95
Millionen q, also um 28 Millionen weniger, betragen. Aber ihr
Wert ist festgestellt mit 12.1 Milliarden Kronen. (Posl.
Pohl: Das ist das arbeitslose Einkommen!) Jawohl, gewiß!
Zur selben Zeit ist aber, was auch hervorgehoben werden muß,
der Weltmarktpreis um durchschnittlich 35 Punkte gesunken.
Nachdem Herr Windirsch aber sozusagen
der Masse der arbeitenden Bevölkerung hier seine landwirtschaftlichen
Hochschutzzölle als Schutzmittel vorgestellt hat und sozusagen
den Dank der Arbeiterschaft dafür noch erwartet hat, ist
es wohl zweckmäßig, noch mit einer anderen Statistik
aufzuwarten, u. zw. mit einer Statistik des Internationalen Arbeitsamtes,
aus deren Meßziffern Folgendes hervorgeht: Es hat der Reallohn,
der Lohn auf Grund der Nahrungsmittelpreise allein bemessen, am
1. Juli 1924 betragen: In Amsterdam (nach Grundlage 100 in London)
89, in Berlin 55, in London 100, in Madrid 57, in Ottawa 172,
in Paris 73, in Philadelphia 213 und in Prag 56. Dann kamen die
Zölle. Und nun die Höhe des Reallohns nach Inkrafttreten
der Lebensmittelpreisänderung durch die Zölle! Da sehen
nun die Vergleichsziffern folgendermassen aus: Am 1. Jänner
1927: In Amsterdam 86, in Berlin 66 (also in Berlin von 55 des
Jahres 1925 gestiegen auf 66, also um 11 Meßziffern), in
London 99, in Madrid 55, in Ottawa 151, in Paris 57, in Philadelphia
173 und in Prag 49 (Hört! Hört!). Die Meßziffer
ist also in der Zeit von 1925 auf 1927 von 56 auf 49 Punkte, also
um 7 Meßziffern, gesunken. (Posl. Pohl: Das ist eine
internationale Feststellung!) Das ist eine Feststellung, an
der man natürlich nicht vorübergehen kann und die man
nicht abtun kann mit vergeblichen Redensarten. Das ist die Feststellung,
die besagt, daß Hunger und Elend und weitere
Verelendung in der Èechoslovakischen Republik, daß
Not und Sorge in den Wohnungen der Arbeiterschaft auf Grund der
Politik der gegenwärtigen Mehrheit, auf Grund der Politik
der deutschen Regierungsparteien eingezogen
sind.
Herr Windirsch hat auch sonst noch gestern
eine großzügige, wie die "Deutsche Landpost"
schreibt, eine hochbedeutsame politische Rede vorgelesen. Er hat
dabei auch ein bischen nach uns hinübergeschielt und hat
gegen uns ins Treffen führen wollen Ausführungen des
Genossen Dr. Renner, die dieser im niederösterreichischen
Budgetausschuss getan hat. Genosse Dr. Renner hat im österreichischen
Budgetausschuss gesagt: "Es zeigt sich schon, daß die
beiden Republiken, die österreichische und die èechoslovakische,
einander am nächsten stehen und in vielen Fragen eine Interessengemeinschaft
besitzen, zumal es den Anschein hat - wie er halb wohlwollend,
halb spöttisch auf die Seite herüber sagte - daß
wenigstens allmählich die Deutschen
in der Èechoslovakischen Republik zu einem Regime der Anteilnahme
an der Staatsgewalt und vielleicht auch zu einem Regime der nationalen
Autonomie gelangen können." Herr Windirsch
hat daraus ein kolossales Lob für die deutschen Regierungsparteien
herausgelesen, trotzdem diese doch seit einem Jahre überall
erzählen, daß sie den Anteil an der Macht bereits haben,
während Dr. Renner jetzt sagt, nach einem Jahre der Anteilnahme
der deutschen Regierungsparteien an der Macht, daß einmal
die Zeit kommen wird, die vielleicht nicht so weit entfernt ist,
wo allmählich die Deutschen zu einem Anteil an der Staatsgewalt
kommen können. Nachdem Herr Windirsch aber gesagt
hat, Dr. Renner könne nicht anders zu dieser Auffassung gekommen
sein, als auf Grund von Wahrnehmungen, die er anläßlich
seines letzten Aufenthaltes in Prag vor den Gemeindewahlen gemacht
hat, ist es wohl zweckmäßig darauf zu verweisen, was
Genosse Dr. Renner just damals in Bezug auf die Politik derselben
deutschen Regierungsparteien gesagt hat. Er hat darauf
hingewiesen, daß wir nun in der Èechoslovakei statt
der allnationalen eine allreaktionäre Koalition haben, daß
ein deutscher Bürger in der Èechoslovakei, der von
keinem anderen als nur vom nationalen Gesichtspunkte sich leiten
ließe, nur die deutsche sozialdemokratische
Partei wählen müßte. weil er da allein eine Wahrung
der Rechte des deutschen Volkes in diesem Staate erwarten könnte,
und er hat dann über die Politik der deutschen Aktivisten
Folgendes erklärt - ich zitiere hier wörtlich: "Auch
diese Behauptung ist in trauriger Weise bestätigt worden,
als die deutschen Aktivisten die nationalen Interessen der Deutschen
vollkommen im Stiche ließen. Sie haben an der Regierung
teilgenommen, ohne ihre Bedingungen zu stellen, ohne ihre Sicherungen
vorauszunehmen. Aber sie haben noch Schlimmeres getan und das
wird ihnen die Geschichte nie verzeihen. Sie haben zugelassen,
daß an Stelle einer nationalen Lokalverwaltung die Länderverwaltung
tritt, die überall die Deutschen zur Ohnmacht verurteilt.
Sie haben sogar zugelassen, daß das einzige Land mit deutscher
Mehrheit in Mähren einverleibt wurde. In ihrem geschlossenen
Wohngebiet ist eine Nation unsterblich. Tausend Jahre lang haben
die Magyaren die Slovakei beherrscht, aber sie haben sie in tausend
Jahren nicht entnationalisiert, weil sie das lokale Zusammenleben
der Slovaken nicht durchbrechen konnten. Man kann eine Nation,
die ihre eigene Lokalverwaltung hat, eine Zeit lang unter Fremdherrschaft
halten, aber sie wird wieder frei. Deshalb ist es besonders wichtig,
daß die Deutschen in diesem Lande die Lokalverwaltung
in Bezirk und Kreis besitzen. An Stelle der Gaue wäre auf
die alte Kreiseinteilung zurückzugehen gewesen."
Es ist also vom ersten bis zum letzten Worte
klar und unzweideutig die Verurteilung der volksverräterischen
Politik der deutschen Regierungsparteien. Wenn angesichts dieser
Tatsachen Herr Windirsch just auf Dr. Renner sich beruft,
so zeigt er entweder selbst ein geringes Gedächtnis oder
setzt diesen Mangel des Gedächtnisses bei den breiten Massen
in der deutschen Bevölkerung voraus. Es ist aber sehr
viel aufgehoben von dem, was nicht nur einmal Dr. Renner,
sondern auch was die deutschen Regierungsparteien gesagt haben,
zur Zeit, als sie noch nicht in der Regierung waren, und
davon möchte ich hier nur zwei Belege nochmals in Erinnerung
bringen. Der eine ist die Erklärung, die am 5. September
1925 von den Landbündlern bei dem Rufe nach der Einheitsliste
abgegeben worden ist und in der es heißt, daß dem
geeinten Vernichtungswillen des Gegners die geeinigte Abwehrfront
aller deutschen Parteien entgegengesetzt werden müßte.
Da waren also ganz andere Töne angeschlagen, als sie der
Herr Windirsch gestern in der Anbetung seines augenblicklichen
Gottes Švehla angeschlagen hat. Der zweite ist die
Erklärung, die vor den letzten Wahlen die deutsche parlamentarische
Arbeitsgemeinschaft hinausgegeben hat und die ich hier nochmals
kurz wiederhole, nachdem in dieser deutschen Arbeitsgemeinschaft
die deutschen aktivistischen Parteien nicht nur dabei waren, sondern
sie überhaupt bildeten. Da hat es geheißen: "Die
Obmännerkonferenz der deutschen parlamentarischen Arbeitsgemeinschaft
hat sich in ihrer ersten Sitzung nach den Osterferien an erster
Stelle mit dem sensationellen Machwerk des deutschgeschriebenen
Regierungsorgans "Prager Presse" beschäftigt,
das von einem angeblich geplanten bedingungslosen Eintritt einzelner
deutscher Parteien in eine Regierung der èechischen allnationalen
Koalition nach den Wahlen zu berichten wußte. Es wurde zunächst
festgestellt, daß die Informationen "aus
deutschparlamentarischen Kreisen", auf die sich das genannte
Blatt beruft, unter gar keinen Umständen aus den Reihen der
deutschen Arbeitsgemeinschaft stammen können. Die Ziele der
Arbeitsgemeinschaft sind der politischen Öffentlichkeit aller
Lager hinlänglich bekannt". Nun heißt es weiter:
"Allgemein weiss man, daß die Vertreter der Arbeitsgemeinschaft
nie ein Hehl daraus gemacht haben, daß sie die Rechte, die
das deutsche Volk in diesem Staate zu fordern hat, als unveräußerliches
Gut immer und von jeder Regierung fordern werden. Mit dieser Politik
stünde es im schroffsten und grundsätzlichsten Widerspruch,
wenn Parteien der Arbeitsgemeinschaft den bedingungslosen Anschluss
an eine Regierungsmehrheit von der Art der jetzigen überhaupt
in Erwägung zögen. Derartige politische Naivitäten
kann kein ernst zu nehmender Politiker der deutschen Arbeitsgemeinschaft
zutrauen." Wenn man diese Erklärung, die allerdings
für die Wähler berechnet war, für die Wähler,
die mit nationalen Schlagworten eingefangen werden sollten, eine
Politik zu unterstützen. wie sie im voraus damals beschlossen
war, als Politik nur gegen die Interessen des deutschen Volkes,
wenn man diese Erklärung mit dem vergleicht, was inzwischen
geschehen ist, so muß man sagen: Es gehört eine eiserne
Stirne dazu, angesichts der Wandlung in so unerhört kurzer
Zeit sich hier an den Tisch zu stellen und noch eine Vertretung
des deutschen Volkes, der deutschen Interessen, eine Vertretung
der Gesamtinteressen des deutschen Volkes markieren zu wollen.
Es ist nun endlich auch in diesem Staate, in
dem die nationalen Leidenschaften so raffiniert gezüchtet
werden - und das ist in Bezug auf die weitere geschichtliche Entwicklung
eine außerordentlich begrüßenswerte Tatsache
- um derart die Klassengegensätze zu übertünchen,
die Tünche abgewaschen worden. Der Kampf der Klassen ist
in seiner ganzen Brutalität enthüllt. Die nationalen
Tenöre, die wir bei Eröffnung dieses Hauses so laut
haben singen hören, sind inzwischen heiser geworden, die
nationalen Götzen sind eingeschmolzen und zu einem Gott umgegossen
worden: In das goldene Kalb, in den Gott Nimm. Er war immer dieser
Herren Gott, aber die Verhältnisse haben 8 Jahre lang seine
Diener genötigt, ihn vor den Massen zu verleugnen und scheinbar
jene Götter anzubeten, die bei den Wählern angesehener
sind. Der 15. November 1925 wendete die Situation. Nun konnte
man die Rücksichten fallen lassen. Man braucht keine Versöhnung
der Völker. Die deutschen und èechischen Parteien
des Kapitals haben sich allein großartig
zusammengefunden, um die Völker, die sich noch nicht zusammengefunden
haben, hübsch zu scheren. Wir deutschen Sozialdemokraten,
die wir den Zerfall der allnationalen Koalition immer vorausgesagt
haben, weil wir wußten, daß die Wahrheit der Klassengegensätze
stärker ist als die Lüge der nationalen Klassenharmonie,
wir sind nicht überrascht durch das, was gekommen ist. Hätten
die deutschen Zöllner ihre Profitwut zähmen können,
so hätte man viel für die nationale Befriedigung erreichen
müssen. So aber, wie die Dinge sich entwickelten, muß
man eben einen Umweg machen: Den Völkern wird dargetan, daß
die Besitzklasse ihr Klasseninteresse über alles stellt und
diese Erkenntnis wird eine Fackel für die Völker sein,
aus der Nacht des Nationalismus herauszukommen und sich nun selbst
zu finden.
Es ist von meinen Parteifreunden bereits so
viel an Tatsachen aufgezeigt worden, welche Arbeit da die Völker
vorfinden würden. Ich will nur noch über ein Kapitel
einige Bemerkungen machen, über die Justiz. Zum Klassenstatt
gehört die Klassenjustiz, zu dem mit dem Signum des nationalen
Chauvinismus gezeichneten Klassenstaat die überdies auch
noch nationalchauvinistisch exzedierende Klassenjustiz. In der
Hauptversammlung der deutschen Richter, die im verflossenen Jahre
in Eger tagte, wurde festgestellt, daß in dem verflossenen
Jahr zwar überaus zahlreiche deutsche Richter in den Ruhestand
versetzt oder verdrängt worden sind, daß aber demgegenüber
trotz vielfachen Bewerbungen nur verschwindend wenig deutsche
Anwärter in den richterlichen Vorbereitungsdienst aufgenommen
wurden, so daß das Schicksal der deutschen Richter wohl
bald besiegelt sein dürfte. "Dieser Zustand" -
heißt es in der Entschließung weiter "greift
aber nicht nur an den Lebensnerv des deutschen Richterstandes,
sondern wäre auch ein vernichtender Schlag gegen das ganze
deutsche Volk, das damit seine eigenen Richter verlöre. Wir
fordern daher für unser Volk, daß auch deutsche Richteramtsanwärter
Aufnahme nach dem Bevölkerungsschlüssel finden. Der
deutsche Richterstand leidet schwer unter den Auswirkungen des
Sprachengesetzes und der Sprachenverordnung, da besonders ihm
dadurch eine mit seinem richterlichen Beruf in keinem Zusammenhang
stehende ungeheure Mehrarbeit aufgebürdet worden ist und
dadurch der ordentliche Geschäftsgang namentlich der Gerichte
im deutschen Sprachgebiet schwer leidet." Das hebe ich noch
einmal hervor, weil der Herr Justizminister gesagt hat, es sei
falsch, daß man sich mit dem Gedanken trägt, eine Entlastung
der Gerichte durch Einschränkung des mündlichen Verfahrens
herbeizuführen, trotzdem das in dem Motivenbericht steht,
den der Herr Finanzminister hinausgegeben hat. Tatsache ist, woran
der Herr Minister Engliš denken müßte und
woran man in der Justizverwaltung und überhaupt in der Regierung
denken müßte, daß wirklich eine große Erschwerung
der gerichtlichen Tätigkeit hauptsächlich durch die
Sprachengesetze herbeigeführt wurde.
Die Versetzbarkeit der Richter ist nun wohl
endlich außer Kraft gekommen, aber was nützt das, wenn
man doch die Möglichkeit hat, nichtèechischen
Richternachwuchs glatt zu unterbinden. An einigen Ziffern vom
Obersten Gericht, die ich bereits im Budgetausschuß mitgeteilt
habe, will ich das noch feststellen: Von den richterlichen Beamten
beim Obersten Gericht sind 76.92%
èechoslovakischer und nur 19.23%
deutscher und 3.85% ungarischer Nationalität.
Von den 7 - Konzeptsbeamten der Generalprokuratur sind - 85.71%
èechischer und 14.29%
deutscher Nationalität.
Wesentlich wichtiger aber ist etwas anderes.
Die Franzosen und die Italiener in der Schweiz bilden dort
eine viel kleinere Minderheit, als die Deutschen in der Èechoslovakei
sie darstellen. Aber es kann sich überall in der Schweiz
der französische und der italienische Staatsbürger in
seiner Muttersprache sein Recht holen,
wo immer in der Schweiz er auch genötigt sei, diesen Anspruch
zu erheben. In der Hauptstadt des Nationalitätenstaates Èechoslovakische
Republik, eines Staates, in dem die Deutschen mehr als ein Viertel
der gesamten Bevölkerung ausmachen, ist der
Deutsche, der sich die Kosten einer rechtsfreundlichen
Vertretung nicht leisten kann, glatt rechtlos gemacht. Es ist
gut und richtig, daß ein èechischer Staatsbürger
in Eger sein Recht in èechischer Sprache finden kann, aber
es ist eine Ungeheuerlichkeit, daß es
einem Staatsbürger deutscher Nationalität unmöglich
gemacht wird, in der Hauptstadt und in den anderen Gerichtsortne
mit nichtqualifizierter deutscher Minderheit sein Recht zu begehren.
Die Justitia, die sich für Millionen von
Staatsbürgern die Ohren verbindet, ist eine traurige Gestalt,
es wäre besser, wenn ihre Augen lichtdichter wären,
aber dann dürfte sie ja vor allem keine Klassenjustiz sein.
Die Richter selbst, soweit sie klare Menschen
sind, anerkennen diese Tatsache, wenn sie auch - wie z. B. ein
Redner am Egerer Richtertage - insoferne auf ein Nebengeleise
kamen, als sie den "Modernen Staat", den "von Klassen-
und Nationalitätenkampf beherrschten Parteistaat" als
die Fehlerquelle ansahen. Ein anderer Redner auf dieser Tagung,
der über die Erziehung zum Richter sprach, kam dem Problem
schon sehr nahe, er kam zu dem ihm alle Ehre machenden Schlusse,
daß das Studium der Rechtswissenschaften zu reformieren
sei, da nach dem bisherigen Lehrplane die Kenntnis des Gesetzes
alles, die Kenntnis des Menschen und seiner inneren Vorgänge
nichts sei, so daß der absolvierte Jurist ohne psychologisches
Wissen, ohne psychologische Schulung auf die Menschheit losgelassen
werde. Wieviele Fehlurteile aber mögen gerade darin ihren
Grund haben, daß die Richter dem wirklichen Leben fernstehen,
praktisch abseits der großen Heerstraße gehen und
niemals Gelegenheit bekamen, ihren Blick entsprechend zu schulen.
Es wäre aber noch etwas dazu zu sagen.
Wir müssen wünschen, daß der Sohn armer Eltern,
der Mensch aus dem Proletariat, die Bahn zum Richteramte freibekomme,
der Mensch, der auf keine finanziellen Nachschübe von zu
Hause rechnen kann, der aber dafür um so besser den Leidensweg
des armen Volkes kennt, der ihn aus eigener Erfahrung kennt. Dazu
aber wäre nötig, daß man nicht ohne solche Nachschübe
von zu Hause als Richter und Richteramtsanwärter hungern
müsse. Der Staat müßte die Menschen, die er mit
dem verantwortungsvollsten aller Mandate, mit dem der Rechtsprechung,
betraut, so bezahlen, wie das ihrem hohen Amte, ihrer großen
Verantwortung ihren Mitmenschen gegenüber entspricht. Auch
das Sparen am Richtergehalte schon ist in seinen Auswirkungen
ein Stück Weg zur gewollten Klassenjustiz. (Posl. Blatná:
So wird erbitterten Menschen das Schicksal aufgeprägt!) Ganz
richtig, aber noch etwas, Koll. Blatny Es werden sehr viele
Menschen, die die Fähigkeit und den Willen zum Richteramte
hätten, von diesem Amte ferngehalten, weil ihnen bei dem
heutigen Stand der Dinge die finanzielle Möglichkeit dazu
fehlt.
Der Klassencharakter des Staates kommt aber
auch im Strafrechte und im Strafvollzuge in furchtbarer Deutlichkeit
zum Ausdruck. Forel hat einmal gesagt, daß die Zukunft des
Strafrechtes in seiner Abschaffung, in der Entfernung eines jeden
Rechtes zur Strafe liegen müsse, daß unser heutiges
Strafrecht nur ein Überrest alter barbarischer Sitten sei
und daß man anstelle des Strafrechtes viel eher ein Schutzrecht
müßte treten lassen. Auch Rathenau hat einmal etwas
ähnliches gesagt, indem er jede Strafe nur als eine Fortsetzung
des Unrechtes erklärte. Natürlich wissen wir, daß
wir heute ohne Strafrecht nicht auszukommen vermögen, aber
wir wissen auch, daß man weniger Strafhäuser bauen
müßte, wenn man mehr Krankenhäuser und mehr Irrenhäuser,
mehr Korrektionsanstalten und Trinkerasyle, mehr Erziehungsanstalten
für schwachsinnige Kinder bauen wollte. Wir haben heute vor
8 Tagen erlebt, daß in Leitmeritz ein junger Mensch, der
ein Mörder geworden ist, zum Tode verurteilt wurde, und bei
der Verhandlung hat man das Furchtbare erlebt, daß die Mutter
dieses Menschen erklären mußte, sie habe jahrelang
darum gebeten und gebettelt, daß ihr Kind, bei dem sie verbrecherische
Neigungen wahrgenommen und auf dessen verbrecherische Tätigkeit
im kleinen sie immer hingewiesen hat, in eine Erziehungsanstalt
komme, daß es geschützt werde vor dem gänzlichen
moralischen Zusammenbruch, der dann auch eingetreten ist. Man
hat ihr aber immer gesagt, es ginge nicht, man hätte dazu
keine Möglichkeit. Die Frau hat bei Gericht und bei verschiedenen
Fürsorgestellen angegeben, daß dieses Kind zu Hause
die Eltern bestohlen, in der Wohnung die Schränke aufgebrochen
habe, daß also verbrecherische Neigungen evident seien.
Da sagte man ihr, das genüge nicht, es müsse ärgeres
geschehen. Dieser krankhaft veranlagte Mensch ist nun Mörder
geworden, dank der Gesellschaft, die keinen Schutz dagegen hat,
daß eine derartige Entwicklung eintritt, und nun hat man
für ihn als Versorgung den Galgen, und wenn er begnadigt
wird, 20 Jahre Zuchthaus. So sieht dieser Staat aus und seine
Stellung als Rechts-Fürsorgeinstitution gegenüber dem
Staatsbürger. (Pøedsednictvi pøevzal
místopøedseda Zierhut.)
Je weniger ein Staat seine sozialen Verpflichtungen
erfüllt, desto härter wird er in seinem Strafrechte
sein, je weniger Fürsorgemenschen er in Dienst stellt,
desto mehr Strafrichter und Gefängniswärter wird er
brauchen. Die amtlichen Ziffern des Staates belegen dies in ganz
unzweideutiger Weise. So kann ich den Mitteilungen des Statistischen
Staatsamtes der Èechoslovakischen Republik dafür sehr
interessantes Material entnehmen und es dürfte vielleicht
genügen, hier nur einige Ziffern aus der Kriminalstatistik
von Böhmen, Mähren und Schlesien anzuführen. Und
nun hören Sie diese Ziffern, deren Sprache so beredt ist,
daß sie mehr erzählen, als die langathmigste Abhandlung
über Strafrecht und die Methoden der Strafverfolgung. Zwei
Jahre seien hier einander gegenübergestellt, das Friedensjahr
1912 und das Nachkriegsjahr 1920. Im Jahre 1912 wurden bei den
Bezirksgerichten im Oberlandesgerichtssprengel Prag 12.596 Personen
wegen Übertretungen gegen die körperliche Sicherheit
verurteilt und im Jahre 1920 war die Ziffer auf 7293 gesunken,
trotz der Verrohung, die infolge des Krieges eingetreten sein
soll. Dagegen ist die Zahl der wegen Diebstahls und Diebstahlsteilnehmung
verurteilten Personen von 16.835 im Jahre 1912 auf 33.437 im Jahre
1920 gestiegen. Noch interessanter, noch viel lehrreicher wird
diese Rubrik, wenn man Jahr um Jahr diese Ziffern vergleicht.
Da finden wir, daß in den letzten drei Friedensjahren die
Ziffern nahezu gleich bleiben, nur zwischen 16.835 und 17.230
schwanken. Im Jahre 1915 steigt die Zahl der Fälle um rund
1000 und ebenso im Jahre 1916. Dann setzt die große Not
ein, der Mangel, die Teuerung, das riesenhaft wachsende Elend,
und plötzlich schnellt nun die Ziffer der Verurteilungen
wegen Diebstahls von 19.000 von mehr als 32.000 in einem Jahre
empor.
Ebenso stieg die Zahl der Verurteilungen im
selben Gerichtssprengel wegen verdächtigen Ankaufs und in
derselben Zeit, also ganz klar sichtbar unter denselben Voraussetzungen,
von 561 im Jahre 1912 auf 2080 im Jahre 1 920. Bei den Gerichtshöfen
erster Instanz sind die Verurteilungen wegen Diebstahls von durchschnittlich
200 in den Friedensjahren auf mehr als 1000 in den Nachkriegsjahren
gestiegen. Die Verurteilungen wegen verdächtigen Ankaufes
haben sich in der Zeit verdreißigfacht. Die als Verbrechen
qualifizierten Diebstähle sind im Oberlandesgerichtssprengel
Prag in der angegebenen Zeit von 1.383 auf 13.927, also auf das
zehnfache gestiegen. Wegen des Verbrechens des Betruges wurden
in den Friedensjahren durchschnittlich 430 Personen verurteilt,
im Jahre 1920 war diese Ziffer im Prager Sprengel auf 1071 angewachsen.
In diesen Ziffern drückt sich das unerhörte
Anwachsen der sozialen Not aus, sie zeigen uns die soziale Not
als Triebfeder zum Verbrechen. Wer solche Ziffern lesen und verstehen
kann und außerdem auch sonst noch ein Mensch ist, der wird
sich sagen müssen, daß in den meisten Fällen die
Leute, die in das Gefängnis geworfen werden, Opfer sind,
Opfer der kapitalistischen Wirtschaft, der Ausbeutung des Menschen
durch den Menschen, daß die Hauptschuldigen an dem Anwachsen
der Kriminalität die sind, die durch ihre nur auf die Befriedigung
ihrer auf Wucherinteressen abzielende Politik tausende Menschen
erst auf die Bahn des Verbrechens gezwungen haben.
Nun sind wir natürlich nicht so
naiv zu glauben, daß im Klassenstaate restlos diese Ursache
des Verbrechens beseitigt werden könnte. An einem aber müssen
wir jedenfalls im Klassenstaate auch schon arbeiten, daran, daß
wenigstens das Übel gemildert werde. Sie von der Mehrheit,
die Sie die Zollpolitik gemacht haben, die Sie die Schaffung des
Lebensunterhaltes maßlos erschweren, Sie die Sie mit einer
schlechten Wirtschaftspolitik viele Zehntausende von Menschen
zu dauernder Arbeitslosigkeit verurteilen und ihnen dann sogar
die Unterstützung verweigern, Sie, die Sie Milliarden für
den Militarismus hinauswerfen und das Geld an den Kriegskrüppeln
und Kriegsweisen, an Krankenhäusern und Fürsorgestätten
sparen, Sie füllen damit die Gefängnisse! Es gilt für
Sie das harte Wort: Ihr laßt den Armen schuldig werden,
dann überlaßt Ihr ihn der Pein.