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zur Kontrolle über die Gesetzmäßigkeit der ein-
zelnen Aktionen der Verwaltung bestimmt ist, zu
respektieren.

Der Herr Ministerpräsident hat zu diesem
Zwecke eine eigene freie Kommission u. zw. den
juristischen Beirat des Herrn Ministerpräsidenten
geschaffen, der seit Monaten darüber berät, wie
die Judikatur des Obersten Verwaltungsgerichtes
im Interesse der Rechtssicherheit der Staatsbür-
ger für die Behörden für alle gleichartigen Fälle
verbindlich gemacht werden könne.

Die Tagespresse hat bereits darüber berichtet,
daß die Regierung ein Gesetz vorbereite, das die
staatlichen Behörden mit Gesetzeskraft ver-
pflichtet, die Judikatur des Obersten Verwal-
tungsgerichtes nicht nur in konkreten Fällen der
Entscheidung, sondern in allen gleichartigen Fäl-
len zu respektieren.

Im vorliegenden Falle bietet sich dem Herrn
Eisenbahnminister die Gelegenheit, die Inten-
tionen des Herrn Vorsitzenden der Regierung zu
verwirklichen, indem er nicht duldet, daß die ihm
untergeordneten Behörden sich über die Judikatur
des Obersten Verwaltungsgerichtes hinwegsetzen,
sondern kraft seines Imperiums diese veranlaßt,
die Judikatur des Obersten Verwaltungsgerichtes
in allen gleichartigen Fällen zu respektieren.

Die konsequente Durchführung der genannten
Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichtes
verlangt, daß das Eisenbahnministerium verfügt,
in allen Gerichtsbezirken, in welchen nach der
letzten Volkszählung wenigstens 20% deutsche
Einwohner leben, alle Aufschriften und Kund-
machungen, die eine Vorschrift, ein Gebot oder
ein Verbo enthalten, womit sich der Staat kraft
seines Imperiums an die die Eisenbahn benutzen-
den Bürger wendet, nicht allein in èechischer,
sondern außerdem auch in deutscher Sprache an-
zubringen.

Eine solche Verfügung muß insbesondere dann
getroffen werden, wenn durch eine konkrete
Sprachenbeschwerde unter ausdrücklicher Anfüh-
rung einer Entscheidung des Obersten Verwal-
tungsgerichtes eine solche Verfügung bewirkt
wurde.

Die Eisenbahn soll überdies nach kaufmänni-
schen Grundsätzen handeln. Es gehört zur Sorg-
falt eines ordentlichen Kaufmannes, daß er die
Kundschaft so bedient, daß sie zufrieden ist. Wie
kann aber die Kundschaft der 31/2 Millionen
Sudeten deutschen als Eisenbahnreisende zufrieden
sein, wenn der Kaufmann Eisenbahn nicht einmal
Warnungen, die mit Strafsanktionen bedroht sind
(Nekuøáci), oder Warnungen vor einer Lebens-
gefahr (nenahýbejte se ven), bei der die Kund-
schaft sogar den Kopf verlieren kann, nicht auch
in der Sprache des Kunden, also in der deutschen
Sprache, anbringt?!

Der Eisenbahnverkehr soll auch nach der neuen
Gesetzesvorlage über das Eisenbahnrecht nach
den Gründen der Zweckmäßigkeit, keineswegs
nach den Gründen des Prestiges eines des die
Republik bewohnenden Volkes geregelt werden.
Diese Zweckmäßigkeit verlangt, daß die Admini-
strative den èechoslovakischen Staatsbürgern
deutscher Nationalität (ethnischer Zugehörigkeit)
wenigstens die Rechte tatsächlich verschafft, die
das Oberste Verwaltungsgericht meritorisch auf-
spricht.

Wenn die Administrative weiterhin das Oberst«
Verwaltungsgericht ignoriert, würdigt sie dieses
höchste Tribunal des Staates, das durch eines der
ersten Gesetze der freien Republik am 2. Novem-
ber 1918 zur Sicherung der Grund- und Freiheits-
rechte aller Staatsbürger eingeführt wurde zu
einem Gerichtshof von lediglich dekorativer Be-
deutung herab und schädigt damit geradezu das
Ansehen der höchsten staatlichen Stellen.

Der Herr Ministerpräsident hat ganz richtig er-
kannt, daß es mit der Sicherheit der subjektiven
Rechte der Staatsbürger arg bestellt ist und den
richtigen Weg eingeschlagen, als er Schritte
unternahm, die Sprachenpraxis des Obersten Ver-
waltungsgerichtes zu fördern.

Aber die Bemühungen des Herrn Vorsitzenden
der Regierung müssen vergeblich bleiben,. wenn
die Herren Ressortminister nicht entschlossen
sind, in ihrem eigenen Wirkungskreis Ordnung zu
machen und ihre untergeordneten Beamten zu
verhalten, die Rechtssprechung des Obersten Ver-
waltungsgerichtes in allen gleichartigen Fällen zu
respektieren. Geschieht dies nicht, dann wird auch
der Juristenrat des Herrn Ministerpräsidenten
keine praktische Bedeutung gewinnen, sondern zu
einem juristischen Debattierklub herabgewürdigt
werden. Dies muß vermieden werden, wenn die
Autorität des Obersten Verwaltungsgerichtes und
des juristischen Rates gewahrt bleiben soll.

In Ausübung der politischen Kontrolle, zu der
wir als gewählte Abgeordnete nicht nur berech-
tigt, sondern verpflichtet sind, richten wir an den
Herrn Eisenbahnimnister die Anfragen:

1. Ist der Herr Minister bereit zu verfügen, daß
auf der Strecke von Neuhof nach Weseritz die an
den Motorwagen angebrachten Aufschriften:

1. Vstup na plošinu za jízdy jest zakázán.

2. Mluviti s øidièem za jízdy jest zakázáno.

3. Neotvírejte, dokud vlak nezastavil Nebezpeèí
úrazu.

4. Nekuøáci.

5. Nenahýhejte se z oken.

6. Die Kundmachung der Staatsbahndirektion
Prag Süd, die unter Hinweis auf einen Erlaß vom
7. Juli, Zl. 20. 209 VI-3-28, das Rauchen in
Motorzügen überhaupt verbietet,
auch in deutscher Sprache und zwar in gleicher
Größe und gleicher Ausstattung angebracht wird ?

2. Ist der Herr Minister bereit, dafür zu sorgen,
daß im ganzen Staatsgebiete und zwar in den-
jenigen Gerichtsbezirken, in denen nach der letz-
ten Volkszählung wenigstens 20% Staatsbürger
derselben, jedoch einer anderen als der èecho-
slovakischen Sprache wohnen, alle von der Bahn-
behörde erlassenen und angebrachten Aufschrif-
ten und Kundmachungen soweit diese eine Vor-
schrift, ein Gebot oder ein Verbot enthalten,
womit sich der Staat kraft seines Imperiums an
die die Eisenbahn benutzenden Bürger wendet und
die Bahnbehörde somit nicht als staatliche Unter-
nehmung, sondern als staatliches Organ oder
staatliche Behörde handelt, außer in der èechi-
schen Sprache auch in deutscher, bzw. der ande-
ren, nicht èechoslovakischen Sprache und zwar in
gleicher Größe und gleicher Aufmachung ange-
bracht werden?

3. Ist der Herr Minister bereit, dafür zu sorgen,
daß Sprachenbeschwerden in Bahnangelegenhei-


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ten nicht erst nach Monaten, sondern mit Rück-
sicht auf die Förderung verfassungsmäßiger
Grundrechte schleunigst erledigt werden ?

4. Ist der Herr Minister bereit, gegen alle
Staatsbeamten und Angestellten, welche Spra-
chenbeschwerden nicht schleunigst erledigen, die
Disziplinaruntersuchung einzuleiten und diese zu
überwachen ?

Prag am 6. Juni 1936.

Wagner,

Fischer, Sandner, Jobst, Jäkel, Wollner, Dr. Pe-
ters, Dr. Neuwirth, Gruber, Ing. Richter, Frank,
Ing. Lischka, Illing, Stangl, Ing. Schreiber, Ing.
Künzel, Kundt, Obrlik, Dr. Zippelius, May, Dr.
Kellner, Dr. Rösche.

Pùvodní znìní ad 523/VII.

Interpellation

des Abgeordneten K. H. Frank,
an den Minister des Innern

betreffend gesetzwidrige Anordnungen
über den Sprachengebrauch im Gast-
gewerbe.

Es gibt kein Gesetz, das den Inhaber einer
Gast und Schankgewerbekonzession zwingt, die
äußeren oder inneren Aufschriften und Bezeich-
nungen in seinem Gewerbebetriebe èechisch anzu-
bringen.

Es gibt kein Gesetz, das den Inhaber eines
Gewerbebetriebes zwingt, diese Aufschriften an
erster Stelle èechisch anzubringen.

Es gibt kein Gesetz, das den Inhaber einer
Gast und Schankgewerbekonzession zwingt, die
Speise und Getränkekarten den Gästen èechisch
oder zuerst èechisch und an zweiter Stelle deutsch
vorzulegen.

Es gibt kein Gesetz, das den Inhaber einer
Gast und Schankgewerbekonzegsion zwingt, für
èechische Bedienung Sorge zu tragen.

Es gibt kein Gesetz, das irgendeine Behörde
berechtigt, den Inhaber eines Gast und Schank-
gewerbes, der sich an diese Grundsätze hält, zu
bestrafen.

Trotzdem ist es vorgekommen, daß Behörden
I. Inatanz Inhaber von Gast und Sehankgewerbe-
betrieben in gesetzwidriger Weise aufgefordert
haben, èechische Aufschriften anzubringen, èe-
chische Speisekarten vorzulegen und für èechische
Bedienung Sorge zu tragen.

Ja, es hat sich sogar ereignet, daß Verwal-
tungsbehörden ohne jede gesetzliche Grundlage
wegen Nichtbeachtung solcher gesetzwidriger
Aufträge empfindliche Verwaltungsstrafen ver-
hängt haben.

Nach einem langen kostspieligen Verfahren
haben manche deutschen Gastwirte in diesen Fra-
gen das Oberste Verwaltungsgericht angerufen.

Dieses höchste Gericht des Staates hat den
deutschen Gastwirten recht gegeben und in zwei
grundsätzlichen Entscheidungen wie folgt erkannt:

Die Gewerbebehörde ist nicht berechtigt, auf
Grund des § 64, Abs. 2 Gewerbeordnung, also in
der Form einer gewerbepolizeilichen Regelung an-
zuordnen, aufweiche Weise und in welchem Um-
fange bei dem Betriebe des Gast- und Schank-
gewerbes die èechische Sprache zu dem Zwecke
anzuwenden ist, daß diese Gewerbe auch den Be-
dürfnissen der èechischen Besucher entsprechen.
(Erkenntnis des Obersten Verwaltungsgerichtes
vom 19. Jänner 1926, Nr. 673, Boh. 5301. )

Gegen ein Straferkenntnis, das ein Inhaber
eines Gastgewerbes wegen Nichteinhaltung von
Vorschriften, die durch eine allgemeine Kund-
machung über die gewerbepolizeiliche Regelung
der Gastgewerbe verurteilt worden ist, kann sich
der Verurteilte durch die Einwendung wehren,
daß der Inhalt dieser Regelung gesetzwidrig ist.
(Erkenntnis vom 19. Jänner 1926, Nr. 1028 Boh.
5303. )

Die Abgeordneten und Senatoren der Sudeten-
deutschen Partei erhalten ständig Anfragen, ob
diese zweifellos richtige Rechtsansicht des Ober-
sten Verwaltungsgerichtes von den unteren Be-
hörden respektiert wird oder ob die Besitzer eines
Gastgewerbebetriebes Gefahr laufen, im Falle der
Entfernung der èechischen Aufschriften gestraft
zu werden.

Es wäre eigentlich selbstverständlich, daß die
Unterbehörden die Rechtssprechung des Obersten
Verwaltungsgerichtes respektieren und nicht nur
keine gesetzwidrigen Aufträge erlassen, die mit
dem freien Sprachgebrauch im privaten und im
Geschäftsverkehr in Widerspruch stehen, sondern
sich selbstverständlich erst recht davor hüten, in
solchen Angelegenheiten gesetzwidrige Verwal-
tungsstrafen zu erlassen.

Die Anfragen unserer Wähler beruhen wohl vor
allem darauf, daß die Staatsbürger die Bestrebun-
gen unseres Herrn Ministerpräsidenten Dr. Hodža
und des ersten Präsidenten des Obersten Verwal-
tungsgerichtes Dr. Hácha, die darauf abzielen,
eine Praxis, die mit den Erkenntnissen des Ober-
sten Verwaltungsgerichtes in Widerspruch steht,
zu beseitigen, zu achten und zu schätzen wissen.

Die Vorstellungen der Wähler eilen allerdings
der Entwicklung voraus, weil die Regierungsvor-
lage über die Bindung der Behörden an die
Sprachpraxis des Verwaltungsgerichtes noch
nicht Gesetz geworden ist.

Trotzdem erscheint es uns als Selbstverständ-
lichkeit, daß der Herr Innenminister, der die Vor-
schläge des Juristenbeirates im Interesse der
Rechtssicherheit gewiß billigt, bereits jetzt in
seinem Ressort dafür sorgt, daß die Unterbehör-
den die Spruchpraxis des Obersten Verwaltungs-
gerichtes nicht ignorieren, sondern bedingungslos
beachten.

Wenn wir gewählte Abgeordnete unseren Wäh-
lern die Aufklärung geben, sie mögen sich auf
die Spruchpraxis des Obersten Verwaltungsge-
richtes verlassen und es daher auf gesetzwidrige
Straferkenntnisse in diesen Angelegenheiten an-
kommen lassen, dann müssen wir wissen, ob das
Innenministerium und die Landesbehörden bereits
heute die Spruchpraxis des Obersten Verwaltungs-
gerichtes billigen und insbesondere derselben


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Rechtsansicht sind, die das Oberste Verwaltungs-
gericht in den beiden obzitierten Entscheidungen
ausgesprochen hat; denn wenn dies wider Erwar-
ten nicht der Fall sein sollte, setzen wir unsere
Wähler der Gefahr einer Verwaltungsstrafe und
eines langen, kostspieligen Beschwerdeweges aus.

Wir stellen daher an den Herrn Minister des
Innern die Anfrage:

1. Ist der Herr Minister des Innern bereit, dafür
zu sorgen, daß alle ihm untergeordneten Behörden
in Übereinstimmung mit der Spruchpraxis des
Obersten Verwaltungsgerichtes jede Verfügung
unterlassen, die darauf abzielt, den freien Sprach-
gebrauch im Gast und Schankgewerbe irgendwie
einzuschränken oder zu behindern ?

2. Ist der Herr Minister des Innern bereit, die
Unterbehörden anzuweisen, keine Straferkennt-
nisse zu erlassen, falls der Inhaber einer Gast-
und Schankgewerbekonzession die tschechischen Auf-
schriften und Bezeichnungen seines Betriebes be-
seitigt und nur einsprachige deutsche Speise-
karten vorlegt ?

Prag, am 6. Juni 1936.

Frank,

Ing. Künzel, Sandner, Jobst, Jäkel, Stangel, Woll-
ner, Ing. Schreiber, Dr. Neuwirth, Fischer, Dr.
Rösche, Wagner, Illing, Dr. Zippelius, Kundt,
Ing. Lischka, Gruber, Ing. Richter, Dr. Kellner,
Obrlik, May, Dr. Peters.

Pùvodní znìní ad 523/VIII.

Interpellation

der Abgeordneten Ing. Franz Künzel und
Ing. Ernst Peschka

an den Innenminister

wegen schikanöser Anwendung des Ver-
sammlungsgesetzes und anderer Vorschrif-
ten gegenüber der Sudetendeutschen Par-
tei, Vorsitzender Konrad Henlein.

Im Jahre 1836 ist es weiland Seiner k. k. Maje-
stät Ferdinand dem Gütigen zur allerhöchsten
Kenntnis gekommen, daß die Zahl der herum-
ziehenden Schauspielertruppen, Seiltänzer, gym-
nastischer Künstler, herumziehender Musikban-
den, oder Eigentümer sonstiger Schaugegenstände
aller Art, welche die österreichischen Provinzen
in allen Richtungen durchstreifen, seit einiger
Zeit bedeutend zunehmen.

Ferdinand der Gütige hat sich daher allerhöchst
entschlossen, mit seinem Hofdekrete vom 6. Ja-
nuar 1836, PGS. Bd. 64, Nr. 5, solche Darbietun-
gen von einer behördlichen Bewilligung abhängig
zu machen.

Es kamen aber wieder andere Zeiten und das
Volk ließ sich den Absolutismus nicht bieten und

verlangte bei der Aufstellung der Kataloge der
Grundrechte immer wieder ein freies, menschen-
würdiges Versammlungsrecht.

So kam es, nachdem die Revolution eine kon-
stitutionelle Verfassung erzwungen hat, im Jahre
1867 zum Gesetze vom 15. November 1867,
R. G. Bl. Nr. 135 über das Versammlungsrecht.

Endlich hatte das freie Volk sich das Recht
erzwungen, sich ruhig und ohne Waffen versam-
meln zu dürfen.

Es war keineswegs mehr auf die Gnade und die
Laune eines Monarchen angewiesen, sondern hatte
das Recht erworben, sich zu versammeln. Es
mußte nicht mehr untertänig bitten, dies tun zu
dürfen, es genügte eine bloße Anzeige der Ver-
sammlung.

Als am 28. Oktober 1918 der Tag der tschechischen
Freiheit anbrach, übernahmen die Tschechen alle
österreichischen Gesetze, darunter auch das Ver-
sammlungsgesetz und allerdings auch das ge-
nannte Hofdekret Ferdinand des Gütigen.

Der neue Staat brachte eine liberale Versamm-
lungspraxis. Es war selbstverständlich, daß die
Administrative auch den Grundsatz respektierte,
daß politische Kundgebungen jeder Art nicht nur
in Prosa, sondern auch in gebundener Rede ver-
anstaltet wurden und daß sie mit dem Kunst-
mittel der Musik umrahmt wurden.

Man drückte auch die Augen zu, wenn Trom-
peter und Trommler der Marxisten auf öffent-
lichen Plätzen das Lied der Weltrevolution bliesen,
das mit der verfassungsmäßigen Einheit und der
Integrität der Tschechoslovakischen Republik keines-
wegs im Einklänge, sondern im Gegensatze und
im Widerspruche steht.

Frau Zeminová hat auch noch niemals inter-
pelliert, als bei chauvinistischen Kundgebungen
das Lied des Hasses "Hrom a peklo" ertönte.

In allen solchen Fällen waren sich die Behörden
bewußt, daß bei Saalversammlungen die Anzeige
genügt und sie bei Versammlungen unter freiem
Himmel verpflichtet sind, politische Kundgebun-
gen auch mit musikalischen Beiwerken anstands-
los zu bewilligen.

Erst als die Sudetendeutsche Partei auftrat,
zog die Bürokratie auf einmal aus der Metter-
nichkommode vorkonstitutionelle Entschließungen,
das oben genannte Reskript des Gütigen Ferdi-
nand hervor, das gerade gut genug war, um die
Versammlungstätgikeit der Sudetendeutschen
Partei in gesetzwidriger Weise zu beschränken.

Andere Parteien sollen singen, blasen und trom-
meln können, die Sudetendeutsche Partei darf
aber nur Prosa sprechen. Bereits Gedichte sind
gefährliche Produktionen.

Bei allen anderen Parteien genügt es, wenn sie
bei politischen Versammlungen gemäß § 2 des
Versammlungsgesetzes den Ort, den Zweck und
die Zeit der Versammlung anzeigen. Bei den Ver-
anstaltungen der SdP aber schaut man sorgfältig
nach, ob nicht ein Vorspruch aufgesagt wird oder
das Lied des Demokraten Uhland "Vom guten
Kameraden gesungen wird. Ist dies der Fall, wird
entweder die Versammlung überhaupt verboten
oder Lieder, Märsche und Vorsprüche verboten
oder wenigstens die politischen Versammlungen
mit dem Namen "Produktion" getauft und in
fiskalisch mißbräuchlicher Anwendung der Ver-
sammlungsgesetze anstelle der stempelfreien An-


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zeige ein gebührenpflichtiges und abgabepflichti-
ges Produktionsgesuch von den Einschreitern be-
gehrt und überdies noch Lustbarkeitssteuer ein-
gehoben, weil man es offenbar für ein Vergnügen
hält, für die Sudetendeutsche Partei Politik zu
machen.

Man sagt uns immer, wir sprechen allgemein
und bringen zu wenig Tatsachen. Wir können in
dieser Interpellation nicht sämtliche Versamm-
lungsverbote und Versammlungsein-schränkungen
aufzählen, die nach dieser mißbräuchlichen Praxis
erfolgt sind. Wir werden uns aber gestatten, dies
anläßlich der Budgetdebatte zu tun. Diesmal
zeigen wir nur einige typische Fälle auf.

1. Der Herr Bezirkshauptmann von Luditz
Dr. Šerpoun beruft sich auf Ferdinand den Güti-
gen und verbietet mit Bescheid vom 23. April
1936, è. 9521/36, das Spielen oder Singen "irgend-
welcher Märsche oder Lieder außer der Staats-
hymne", weil er der Meinung ist, daß hiedurch
die Versammlung zu einer Art von Produktion
wird. Auch den Sudetendeutschen Marsch und die
zum allgemeinen Kulturgut der Deutschen ge-
hörigen Märsche "Fehrbelliner Reitermarsch",
"Hohenfriedbergmansch" und alle preußischen
Militärmärsche verbietet der Herr Bezirkshaupt-
mann.

2. Die Staatspolizei von Aussig hält der Sude-
tendeutschen Partei wieder vor, daß sie keine
"Akademie" sei und verbietet daher alle Lieder
und Sprechchöre.

Für besonders gefährlich hält die Staatspolizei
in Aussig die strickenden Frauen der Sudeten-
deutschen Partei. Sie dürfen bei behördlich ange-
meldeten Heimabenden, die nichts anderes als
öffentliche auf Mitglieder beschränkte Versamm-
lungen nach § 2 des Versammlungsgesetzes sind,
keinerlei Lieder singen, nicht einmal "Kommt ein
Vogerl geflogen... ", weil dadurch der Strick-
abend zur Produktion wird und vorher mit 5 Kè
gestempelte Gesuche überreicht werden müßten.

3. Auch der Herr Bezirkshauptmann von Tachau
kann in seinem Bescheide der Bezirksbehörde in
Tachau vom 24. März 1936, È. R. 12 -25, Lieder
nicht leiden; auch er zitiert rechtsirrig den Geist
Ferdinand des Gütigen und verbietet diesen Teil
der Versammlung.

4. Der Herr Bezirkshauptmann von Friedland
will nicht zurückstehen. Er erläßt den Bescheid
vom 26. März 1936, è. 11. 415/86, und bezeichnet,
ohne sich über das Verhältnis des genannten
Hofdekretes zum Versammlungsgesetze juristisch
besonders den Kopf zu zerbrechen, alle Eingaben
und Musikstücke einfach als Produktionen; er
greift gleich recht gründlich durch, beschränkt
nicht einmal das Programm, sondern verbietet
einfach rechtsirrig nach § 6 des Vereammlungs-
gesetzes die Versammlung.

5. Der Bezirkshauptmann von Dauba ist ein An-
hänger der neuen Zeit; obwohl sein Amtssitz in
einem entlegenen Landstädtchen liegt, richtet er
sich nach den Grundsätzen amerikanischer Ratio-
nalisierung und läßt auf einem modernen Ver-
vielfältigungsapparat die Verbotsbescheide ver-
vielfältigen, mit dem schönen vervielfältigtem
Passus: "Zum eventuellen Vortrag von Gedich-
ten, Sprechchören und musikalischen Einlagen,
sowie zum Singen von Liedern erteile ich keine
Bewilligung, da dies schon den Charakter einer

Produktion hat und nicht in den Begriff der
öffentlichen Versammlung im Sinne der Vor-
schriften des letztzitierten Gesetzes einbezogen
werden kann".

6. Beim Herrn Bezirkshauptmann von Poder-
sam, der bekanntlich an der Existenz des Sudeten-
deutschtums zweifelt, wundert es uns nicht, daß
er mit Bescheid vom 19. März 1936, è. 12/75 nicht
zur Kenntnis nimmt, daß gesungen, musiziert und
rezitiert wird. Aber er hat doch einen Sudeten-
deutschen gefunden, dem er diesen Bescheid zu-
stellen konnte, nämlich Karl Träger aus Poder-
sam.

7. Herr Dr. Kalis vom Polizeikommissariat in
Aussig läßt sich in seinem Bescheide vom 19.
März 1936, Zl. 10. 329, in den Gründen gar nicht
darauf ein, zu untersuchen, welchen Inhalt eigent-
lich der angezeigte Vorspruch von Max Zweigelt,
ein Spruch von Karl Grögler, und das Schlußlied
"Nur das Recht" hatten. Er verbietet alles, weil
Versammlungsteilnehmer nicht zu singen haben.
Auch dann nicht, wenn sie "Nur das Recht"
wollen.

8. Der Herr Bezirkshauptmann von Marienbad,
substituiert durch seinen Vertreter Dr. Mekoun,
läßt ebenfalls in seinem Bescheide vom 19. März
1936, Zl. 105 - R XII niemanden singen und rezi-
tieren. Auch dann nicht, wenn der angezeigte
Spruch von Franz Höller, einem èechoslovakischen
Staatsbürger, deutscher Nationalität (ethnischer
Zugehörigkeit) verfaßt wurde.

9. Auch die Preßnitzer läßt der Herr Bezirks-
hauptmann Padìra mit Bescheid vom 18. März
1936, Zl. 4224, nicht singen, selbst dann nicht,
wenn sie nur ihr erzgebirglerisches Heimatlied
"Vergaß dei Hamit net" singen wollen.

10. Der Herr Bezirkshauptmann von Mährisch
Trübau, dessen Unterschrift leider unleserlich ist,
scheint nur einsprachiges Briefpapier zu be-
sitzen, denn er spricht seine Verbote mit dem
sprachlich in der Erledigungsüberschrift offenbar
unzureichenden Bescheide vom 13. März 1936,
è. 10. 508/IV-2, auf einem Amtspapier aus, das
nur die Überschrift "Okresní úøad v Moravské
Tøebove" trägt. Er hält es für gefährlich, daß
eine Frau einen Vortrag über Rassenlehre hält.

Über diesen Bescheid würden wohl die beiden
großen Mährer, der Freigeist Komenius und der
Rassenforscher Mendl den Kopf schütteln.

Man soll nicht sagen, daß wir an den Staats-
beamten nur herumkritisieren. Wir sind in der
angenehmen Lage, einen von ihnen sogar beson-
ders zu loben und hoffen, daß dieses Lob der
Sndetendeutschen Partei ihm in seinem Fort-
kommen nützt: Es ist dies der wackere, juri-
stische Schriftsteller Dr. Otokar Kalandra, Rat
der politischen Bezirksbehörde in Mies. Er hat ein
sehr wertvolles Büchlein herausgegeben: "Prak-
ticky výklad práva shromažïovacího pro vý-
konnou službu". Die erste Auflage haben die
Staatsbeamten bereits studiert. Die oben genann-
ten Staatsbeamten haben es offenbar noch nicht
gekauft. Wir empfehlen ihnen daher dieses Büch-
lein, das in zweiter Auflage im Jahre 1935 von
der Staatsdruckerei in Prag gedruckt wurde und
in seiner ersten Auflage sogar mit Erlaß der
Landesbehörde vom 18. Januar 1934, Zl. 53. 973,
ausdrücklich empfohlen wurde. Es wäre sehr gut,
wenn die Herren Bezirkshauptleute und Kommis-


21

säre erster Instanz, bevor sie über unsere Ver-
sammlungsanzeigen entscheiden, erst einmal in
diesem Büchlein nachblättern würden; damit
würden sie der Landesbehörde viele Berufungs-
entscheidungen ersparen und Arbeitskräfte der
Administrative für die Bekämpfung der Arbeits-
losigkeit freigeben; denn auf Seite 13 ist klar ge-
saert. was eine Produktion ist:

"Produkce pod-
léhají pøedpisùm dekrétu dvorské kanceláøe z 20.
ledna 1836, sv. 64, è. 5 sb. pol. zákonu. Podstat-
ným znakem produkce jest vybírání vstupného;
smí se konati jen na základe zvláštni produkèní
licence, která mùže býti udelená pro bežný rok.
Žádost musí býti kolkována 8 Kè kolkem a pod-
léhá dávce podle položky 30, sazby B.

So ist es richtig. Ferdinand der Gütige dachte
nur an Leute, die sich mit Musik, Seiltanzen und
Moritaten, Erzählungen einen Erwerb schufen,
keineswegs aber an Musikdarbietungen freier
Staatsbürger, die anläßlich ihrer verfassungs-
mäßig gewährleisteten Versammlungen, Lieder
singen und Musikstücke spielen.

Überdies gehört es zum Wesen einer Produk-
tion, daß die produzierende Einzelperson oder die
produzierende Menschengruppe dem Kreise der
Zuhörer nicht angehört und sich vor einer zu-
hörenden Menschengruppe produziert. Selbst wenn
diese Voraussetzungen aber gegeben wären, liegt
immer noch keine Produktion vor, wenn die Vor-
führungen nicht entgeltlich erfolgen.

Die gerügte Praxis verkennt, grundsätzlich, daß
die Rechtsentwicklung fortschreitet und die poli-
tischen Versammlungen seit 1848 selbstverständ-

lich immer mit Musik und anderen Darbietungen
umrahmt waren. Auch die Tradition des èechoslo-
vakischen politischen Lebens bestätigt dies. Es ist
untragbar, daß die Praxis versucht, die verfas-
sungsmäßigen Grundrechte mit einem alten Hof-
dekrete Ferdinand des Gütigen zu erschlagen oder
einzuschränken. Leider scheinen alle diese Be-
scheide aus derselben Küche zu stammen und von
irgendeiner oberen Behörde auszugehen.

Wir stellen daher an den Herrn Innenminister
die Anfrage:

1. Ist der Herr Innenminister bereit, die zitier-
ten Bescheide zu requirieren und zu ihnen konkret
Stellung zu nehmen?

2. Ist der Herr Innenminister bereit, dafür zu
sorgen, daß das für herumziehende Schauspieler,
Seiltänzer, gymnastische Künstler, Musikbanden
oder Eigentümer sonstiger Schaugegenstände gel-
tende Hofdekret Ferdinand des Gütigen vom 6.
Januar 1836 nicht dazu mißbraucht wird, die
freien politischen Kundgebungen des Sudeten-
deutschtums, zu beschränken und zu erdrosseln?

Prag, am 8. Juni 1936.

Ing. Künzel, Ing. Peschka,

Dr. Rösche, Kundt, Fischer, Stangl, Gruber, Obr-
lik, Knöchel, Dr. Zippelius, Ing. Schreiber, Jobst,
Dr. Peters, Dr. Kellner, Wollner, Axmann, Sand-
ner, Ing. Richter, Dr. Hodina, Illing, Wagner,
Dr. Jilly.

Státní tiskárna v Praze. - 8530-36.


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