Die zur Beratung stehende Sozialversiche rungsvorlage ist das Ergebnis des kleinlichsten Interessenkampfes, der sich innerhalb der Koalitionsparteien abgespielt hat. Jene haben Recht behalten, die behaupteten, daß in den wichtigsten Fragen nicht die Einsicht, sondern nur der Parteiegoismus, kleinliche Rücksichten auf Parteibedürfnisse entscheidend sein werden. Nicht immer anmutig waren die Raufereien, die da vor sich gegangen sind. Für uns besteht keine Ursache, angesichts der Bestimmungen dieser Vorlage von einem Sieg des Optimismus zu reden. Es gibt Mitglieder der Koalitionsparteien, die von einem Sieg des Optimismus sprechen; aber gesiegt hat bei dieser Vorlage nicht der Optimismus. Gesiegt hat der kleinliche, engherzige Geist, der einzelne bürgerliche Parteien beseelt und von dem sie sich leiten lassen in Augenblicken, wo es gilt, eine Schuld an die Arbeiter abzutragen, wo es heißen sollte, Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter Rechnung zu tragen. Nicht der Optimismus hat also gesiegt, sondern die Selbstsucht, die Kurzsichtigkeit gewisser politischer Parteien und ein Geist, der wahrhaftig nicht gepriesen werden kann, als ein Geist der sozialpolitischen Weitsicht und Erkenntnis. Die Oberhand haben bei der Beratung über die Sozialversicherung jene Parteien behalten, die mit nlust an das ganze Werk herangegangen sind. Sie haben sich förmlich die wenigen Zugeständnisse, die im sozial-politischen Ausschuß und im Unterausschuß erzielt worden sind, in schweren Kämpfen abringen lassen. Wir sind auch heute noch nicht darüber hinaus! Die Abstimmung ist noch nicht vorüber. Wir wissen aus der letzten Sitzung des sozial-politischen Ausschusses, daß von einem Vertreter der èechischen Agrarier, dem Abgeordneten Dubický, noch in letzter Stunde versucht wird, den Einfluß der Versichertenvertreter im Vorstand in einer sehr wichtigen Frage auszuschalten. Die èechischen und die deutschen Agrarier gehen leider in dieser Frage zum Schaden der deutschen Arbeiter in einer Richtung.
Eine der nützlichsten und eine der für uns wertvollsten Bestimmungen der Sozialversicherungsvorlage ist die, daß die Verbände der Krankenkassen beibehalten werden. Ursprünglich wollte man sie beseitigen, obwohl niemand verkennen kann, daß die Verbände der Krankenkassen sehr viel zur Fortentwicklung der Krankenversicherung getan haben. Die Einführung der Angehörigenversicherung ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß Krankenkassen, die von Arbeitern verwaltet wurden, beispielgebend gewirkt haben und daß sich die Verbände für die Einführung dieser Versicherung in den zu ihnen gehörigen Kassen bemüht haben. Die Verbände haben in Sachen der Heilbehandlung Großes geleitet. Die Gesetzgeber dieses Staates sollten die Verbände möglichst ausgestalten und dafür sorgen, daß sie sich entwickeln können, daß man sie aus dem kleinlichen Parteigezänke heraushebt. Statt dessen soll die Entscheidung, welchem Verbande eine Krankenkassa beitreten soll, den Unternehmern überantwortet werden. Das soll auf die Weise geschehen, daß über den Beitritt einer Krankenversicherungsanstalt nicht der Vorstand der Krankenkassa zu entscheiden hat, sondern der Vorstand und der Überwachungsausschuß. Es hätten also die 8 Unternehmer im Überwachungsausschuß mit den 2 Unternehmervertretern im Vorstande der Krankenversicherungsanstalten mitzubestimmen, welchem Verbande beizutreten ist. Nachdem wir das Verhältniswahlrecht erhalten, ist mit Sicherheit, wenigstens für längere Zeit mit Sicherheit, darauf zu rechnen, daß nicht nur Versichertenvertreter in den Vorstand kommen, die in der notwendigen sozial-politischen Einsicht handeln, sondern es wird vielfach vorkommen, daß auch Vertreter von Versicherten in den Vorstand der Krankenkassen eine Politik mitmachen werden, wie sie die Unternehmer haben wollen. Auf die Weise, daß man den Überwachungsausschuß mitentscheiden lassen will über den Beitritt zu einem Verband, liefert man eine der wichtigsten Fragen vollständig dem Willen der Unternehmer aus. Wenn die èechischen Agrarier diese Forderung aufstellen, so überrascht uns das bei ihrem bisherigen Verhalten gegenüber der Sozialversicherung durchaus nicht. Aber wir vermögen nicht einzusehen, aus welchen Gründen die Vertreter der deutschen Agrarier für eine solche Forderung sind. Der Antrag Dubický ist angekündigt. Es ist notwendig, auf seine Schädlichkeit aufmerksam zu machen und zu verhindern, daß dieser Gedanke sich durchsetzt.
Wir gehören, wie schon gesagt, nicht zu jenen, die über die jetzige Sozialversicherungsvorlage in Jubellieder ausbrechen. Den Verschlechterungen in der Verwaltung und in den Einrichtungen der Krankenversicherung steht kein Ausgleich in den Leistungen gegenüber. Diese sind sogar wesentlich eingeschränkt worden. Ich verweise nur auf jene Einschränkungen, die sich an den Arbeitern besonders fühlbar machen werden. Die ersten drei Tage wird überhaupt kein Krankengeld gezahlt. In den ersten vierzehn Tagen der Krankheit wird der Sonntag nicht mit in den Bezug der Krankenrente eingerechnet, so daß darin schon eine starke Schädigung der Versicherten liegt. Wie heute, so hat es auch früher Leute gegeben, die behaupteten, man könne für die ersten Tage der Krankheit die Unterstützung wegfallen lassen, da man dadurch viel erspare. Die Sachverständigen im Krankenversicherungswesen sind anderer Meinung und bestreiten, daß irgend welche Ersparungen damit gemacht werden könnten. Wir lehnen deshalb auch diesen Gedanken ab und bestehen darauf, daß die Krankenrente vom ersten Tage der Krankheit an gezahlt wird. Die Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichtes hinsichtlich der Teilung des Wochenlohns durch sieben und der Teilung des Monatslohns durch dreißig bei Errechnung der Lohnklassu ist ins Gesetz nicht aufgenommen worden. Bei jenen Arbeitern aber, die sieben Tage in der Woche, oder bei Arbeitern, die dreißig Tage im Monat arbeiten, soll nach dem Erkenntnis des Obersten Verwaltungsgerichtes vorgegangen werden. Man wird bald darauf kommen, daß das gegen die Sonntagsruhebestimmungen verstößt und gegen den Ersatzruhetag. Ein Zugeständnis, das wirklich nur aus Ängstlichkeit vor den Unternehmern, vor den Kundgebungen der Unternehmer gemacht wurde. Was die Leistungen anlangt, so machen Sie nichts gut von dem, was in den früheren Partien des Gesetzes, soweit die Krankenversicherung in Frage kommt, verschlechtert und verdorben worden ist.
Nun untersuchen wir einmal, wieso es möglich gewesen ist, daß das wichtigste gesetzgeberische Werk für die Arbeiterklasse dieses Landes so ausfallen mußte. Ganz kurz habe ich schon darauf verwiesen, daß jene Parteien, die die Aufgabe gehabt hätten, für die grundsätzlichen Forderungen in Sachen der Sozialversicherung einzutreten, immer wieder zurückgewichen sind. Sie haben mit sich reden lassen und es kommt mir vor, als ob der Teil in der Koalition, der die Vertretung der sozialdemokratisch organisierten èechischen und slovakischen Arbeiter bildet, der der Anwalt dieser Arbeiter in der Regierung ist, als ob dieser Teil in einem Verhältnis zu den bürgerlichen Koalitionsparteien stände, um das sie wirklich nicht zu beneiden sind. Der sozialdemokratische Teil der Koalitionsregierung kann zu dem anderen Teil wie Gretchen zu Faust sagen: "Ich habe schon so viel für dich getan, daß mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt." Das, was in der Sozialversicherung an Zugeständnissen gemacht und preisgegeben worden ist, das kommt uns zu viel vor, als daß wir es begreifen und einsehen könnten. Und wofür? Welche Gegenleistungen werden die Arbeiter dafür erhalten, daß ihre Vertreter in der Koalition die wichtigsten Grundsätze der Sozialversicherung preisgegeben haben? Sie wird recht mager ausfallen, wenn überhaupt eine solche erfolgt. Die Zugeständnisse und Opfer, die man gebracht hat, werden vergeblich gebracht worden sein. Wir haben noch nicht die Sozialversicherung, auch wenn wir diese Vorlage im Hause annehmen und sie im Senat beschlossen wird. Es besteht ein Zusammenhang dieses Gesetzes mit der Selbständigenversicherung, eine Bestimmung, die besagt, daß die Sozialversicherung für die Arbeiter nur gleichzeitig mit der Sozialversicherung der Selbständigen in Kraft tritt. Wir sind jederzeit dafür gewesen, daß auch die Selbständigen für das Alter gesichert werden. Wir haben uns in Österreich dafür eingesetzt. Wir waren nur gegen die Zus ammenschweissung der beiden Versicherungsgruppen in einer Organisation. Das ist auch bei uns zum Glück vom Anfang an verhindert worden. Die Vorarbeit für die Sozialversicherung der Selbständigen geht aber in einem äußerst langsamen Tempo vor sich. Haben wir denn bisher aus den Kreisen der Selbständigen beachtenswerte Anregungen in einem solchen Umfange bekommen, daß man behaupten dürfte, wir seien ziemlich nahe der Selbständigenversicherung? Die Vorarbeiten sind zwar im Gange. Anregungen liegen vor, aber es melden sich daneben Stimmen aus den Kreisen der Selbständigen dagegen. Es kommen da Gruppen der Bevölkerung in Betracht, die eine Sozialversicherung zwar erstreben, aber die Kostenfrage fürchten. Da wir gesehen haben, daß bei der Sozialversicherungsvorlage im Unterausschuß und im Ausschuß ein kleinlicher Kampf stattgefunden hat, daß mit den allerrückständigsten Auffassungen gearbeitet wurde, wenn man die Schwierigkeiten in Betracht zieht, die zu überwinden waren, so fürchten wir, daß die Sozialversicherung der Selbständigen noch sehr geraume Zeit auf sich warten lassen wird. Durch das Junktim mit der Selbständigenversicherung kann es so kommen, daß das Gesetz über die Sozialversicherung für die Arbeiter zwar in der Sammlung der Gesetze und Verordnungen zu lesen sein wird, aber daß der Arbeiter noch keine Alters- und Invaliditätsversicherung haben wird. Neue Widerstände werden sich geltend machen bei der Beratung der Versicherung für die Selbständigen, und es wird das große Werk, das hier im Hause und im Senate jetzt vollendet werden soll, zwar als Gesetz fertig sein, aber es wird noch lange nicht wirksam werden.
Ich bin am Schlusse. Wir müssen, bevor wir das letzte Wort über diese Sozialversicherungsvorlage jetzt sprechen können, den weiteren Gang der Verhandlungen abwarten. Wir haben uns - und das unterstreiche ich - den Tag, an dem in diesem Staate die Sozialversicherung gemacht wird, anders vorgestellt. Wir haben erwartet, daß die Aufmerksamkeit für dieses Gesetzeswerk größer sein wird, als sie in Wirklichkeit ist. Wir haben uns vorgestellt, daß nicht Engherzigkeit und Eifersüchteleien der politischen Parteien untereinander bei der Schaffung einer so großen Sache eine so entscheidende Rolle spielen werden, als es in der Tat der Fall gewesen ist. Wir haben insbesondere erwartet, daß man an die Einführung der Alters- und Invaliditätversicherung mit dem festen Entschlusse herangehen wird, ein großes sozialpolitisches Werk zu schaffen, das vorbildlich wirkt. Das ist nun nicht geschehen. Wir begreifen, daß es unter den obwaltenden Verhältnissen für die sozialistischen Parteien in der Koalition schwer gewesen ist, den Gedanken der Sozialversicherung überhaupt durchzusetzen. Ich bezweifle aber, daß die bürgerlichen Koalitionsparteien den Mut gehabt hätten, aus kleinlichem Parteiinteresse das große Werk unmöglich zu machen, wenn die sozialistischen Parteien in den Fragen der Selbstverwaltung und der Leistungen festgeblieben wären.
Für uns aber ist, wenn das Gesetz beschlossen wird, der Kampf um eine wirklich gute Sozialversicherung nicht zu Ende. Was uns ein Gesetz bietet, nützen wir zu späteren Fortschritten aus. Wir werden im Rahmen dieser Sozialversicherung, wenn wir sie erhalten, keinen Augenblick daran vergessen, daß sie keine, oder doch nur eine sehr mangelhafte Abschlagszahlung und ein sehr schwaches Entgegenkommen gegenüber dem ist, was die Arbeiterklasse zu verlangen hat. Es werden wieder andere Zeiten kommen. Heute glauben die bürgerlichen Parteien in der Koalition und die bürgerlichen Parteien im deutschen Lager, daß sie die Macht haben, ihren Willen durchzusetzen, - und sie haben ihren Willen um so mehr durchgesetzt, als man viel zu nachgiebig gegen sie war. Das wird nicht immer so bleiben. Es wird die Stunde kommen, wo die Kraft der Arbeiterklasse in der Èechoslovakischen Republik es zustande bringen wird, in der Sozialversicherung jene Grundsätze durchzusetzen, für die wir uns jahrzehntelang mit aller Kraft und Leidenschaft eingesetzt haben. Nicht die Beendigung des Kampfes um eine gute Sozialversicherung ist für uns die Beschlußfassung über dieses Gesetz. Seine Annahme bedeutet nur das Ende eines Abschnittes dieses Kampfes. Der Kampf aber wird fortgeführt werden, bis wir eine Sozialversicherung erreicht haben, die den berechtigten Forderungen der Arbeiterklasse entspricht. (Souhlas a potlesk na levici.)